Kindliche Sprach- und Sprechstörungen

In der kindlichen Sprachentwicklung kommt es manchmal zu Abweichungen. Diese zeigen sich in den Bereichen Wortschatz, Satzbau, Sprachverständnis und/oder Aussprache.

 

Sprachentwicklungsstörungen (SES) betreffen die Kommunikation, das Sprachverständnis, den Wortschatz und die Laut-, Wort- und Satzbildung. Bei einer SES sind oft mehrere Bereiche gleichzeitig betroffen.

"Jeiter hos is'" (Die Leiter ist hoch)
Auf lautlicher Ebene ersetzt das Kind das /l/ durch /j/, das /ch/ durch /s/. Auf grammatischer Ebene ist zu beobachten, dass der bestimmte Artikel "die" ausgelassen, das konjugierte Verb "is" an das Satzende gestellt wird, wobei "is" als umgangssprachliche Aussprachevariante von "ist" bewertet werden kann.

Ein zu geringer Wortschatz kann zur Erschwerung der Störung beitragen, weil der Erwerb grammatischer Regeln wie z.B. die Verbkonjugation (ich singe, du singst, er singt ...) voraussetzt, dass dem Kind genügend Wörter zum Trainieren der Regeln zur Verfügung stehen.
Die Störungen des Lauterwerbs, des Wortschatzes und der Grammatik können aber auch isoliert auftreten, ebenso wie Störungen der Kommunikation, die dann als „Pragmatische Störungen“ bezeichnet werden.

Störungen beim Aufbau des Wortschatzes (lexikalische Störungen) können sowohl den Wortschatzumfang als auch die Merkmale der einzelnen Wörter betreffen.

  • Die Einschränkung des Wortschatzumfanges ist beispielsweise daran erkennbar, dass dem Kind zur Kommunikation notwendige Wörter wie Nomen (z.B. Hund, Auto), Verben (z. B. laufen, essen) oder Adjektive/Adverbien (z.B. schön, groß) fehlen und es häufig auf unspezifische Wörter wie "Dings", "machen" oder "so" zurückgreift.
  • Oft haben die Kinder auch Probleme, Wörter in einen Zusammenhang zu bringen (z.B. Hund und Katze dem Begriff "Tier" zuzuordnen oder Augen, Mund und Nase dem Begriff "Gesicht").
  • Des Weiteren kann ein Kind auch Wortfindungsstörungen haben, d.h. es sucht nach Wörtern und nähert sich zuweilen dem gesuchten Wort über lautliche Ähnlichkeiten, z. B. "belustlos" anstelle von "bewusstlos" (Beispiel aus Kauschke 2012: 130). Hält diese Symptomatik bis zum Schuleintritt an, kann sich dies nachteilig auf den Leseerwerb, d.h. das Leseverstehen auswirke.

Ein großer Teil der Kinder mit einer lexikalischen Störung fällt schon sehr früh durch den verspäteten Sprechbeginn (siehe "Late Talker"). 

Störungen der Grammatik können Wörter und Sätze betreffen. Beispielsweise wenn Endungen an Wörtern fehlen oder nicht korrekt sind.

Beispiele

  • Die Kinder lassen zum Beispiel beim Partizip die Vorsilbe "ge-" weg ("Ich habe spielt.") oder beugen Verben nicht richtig ("Du gehen ...").
  • Wenn Kinder Probleme haben, korrekte Sätze zu bilden, kann sich dies in Auslassungen oder Umstellungen zeigen ("Mama lange Haare hat").


Solche Störungen werden in der Logopädie auch morphologisch-syntaktische Störungen genannt.

Phonetische Störungen

Phonetische Störungen sind Abweichungen bei der Aussprache von Lauten bzw. Lautverbindungen aufgrund von sprechmotorischen Problemen. Davon sind phonologische Störungen abzugrenzen, die dazu führen, dass Laute nicht an der korrekten Position im Wort verwendet werden können. Bei Artikulationsstörungen entspricht die Lautbildung eines oder mehrerer Laute nicht dem sogenannten "Standardmuster" einer Sprache, d.h. ein Laut wird nicht oder falsch gebildet. Am häufigsten sind im Deutschen die Zischlaute davon betroffen. Wird der Laut /s/ nicht korrekt gebildet, so wird dies als "Sigmatismus" bezeichnet und kommt in verschiedenen Ausprägungen vor. Häufig werden alle s-Laute interdental gesprochen, d.h. dass die Zunge bei der Artikulation von /s/ zwischen die Zähne drückt. Bei addentaler Bildung wird die Zunge nicht zwischen aber zu nah an die Frontzähne gelegt. In jedem Fall ergibt sich ein veränderter Klang des /s/, der als „Lispeln“ wahrgenommen werden kann. Auch /sch/ wird im Deutschen oft artikulatorisch verändert.

Manchmal  werden die /s/- oder /sch/-Laute auch lateral gebildet, d.h. Luft entweicht auch über die seitlichen Zahnreihen.

Wenn die Artikulation zusätzlich durch sprechmotorische Abweichungen anderer Laute verändert wird, oder auch insgesamt eine Tendenz für eine eher unpräzise Aussprache („Nuscheln“) besteht, können die Artikulationsstörungen zu einer Einschränkung der Verständlichkeit führen und damit die verbale Kommunikation beeinträchtigen.

 

Phonologische Störungen

Bei phonologischen Störungen kommt es zu Lautauslassungen oder Lautvertauschungen (z.B. „Toffer“ statt "Koffer"). In der Regel können die Kinder die Ziellaute motorisch bilden, wissen jedoch nicht, in welchen Wörtern sie sie gebrauchen müssen.

Es kann zu phonologischen Ausspracheverzögerungen und/oder –störungen kommen, d.h. ein Kind vertauscht/tilgt Laute länger als in der normalen Entwicklung üblich ist oder ein Kind ersetzt/tilgt Laute in einer Form, die in der normalen Entwicklung nicht vorkommt.

Sowohl die Verzögerungen als auch die Störungen sollten logopädisch / sprachtherapeutisch behandelt werden. Die Fähigkeiten, die das Kind erwerben sollte, sind „phonologische“ Fähigkeiten. Das bedeutet, dass Kinder nicht nur in der Lage sind den Inhalt eines Wortes zu verstehen, sondern auch die lautliche Form eines Wortes sicher zu verarbeiten. Zum Beispiel wissen Kinder, dass eine „Giraffe“ das große Tier mit Flecken und langem Hals ist, aber sie wissen in einem bestimmten Alter auch, dass nur die „Gi-raf-fe“ richtig ist und nicht bspw. die „Ri-gaf-fe“. Dieses Wissen (Phonologische Bewusstheit) umfasst viele Ebenen der Lauterkennung, -reihenfolge, u.a. und ist damit eine wichtige Voraussetzungen für den erfolgreichen Lese- und Rechtschreiberwerb.

Kinder mit phonologischen Störungen haben ein höheres Risiko für die Entwicklung einer Lese-Rechtschreibstörung.

Late Talker („Späte Sprecher”) sind Kinder, die im Alter von 24 Monaten weniger als 50 Wörter und / oder keine Zwei-Wort-Sätze bilden können. Der zu diesen Alterszeitpunkt typische "Wortschatzspurt" hat nicht eingesetzt. Der Wortschatz scheint insgesamt langsamer anzuwachsen. 

Ein Drittel der Late Talker holt die verzögerte Sprachentwicklung bis zum Alter von 30 Monaten von alleine auf. Diese Kinder bezeichnet man als „Late Bloomer”.

Zwei Drittel der Late Talker sind von einer schweren Sprachentwicklungsstörung (SSES) bedroht und können von einer frühen logopädischen Therapie gleich nach der U7 sehr profitieren.

International wird eine Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS) als "Entwicklungsstörung des Lesens und Schreibens" definiert. In Deutschland werden die Begrifflichkeiten LRS und Legasthenie (auch Entwicklungsdyslexie/dysgraphie) synonym verwendet. Die LRS ist eine Teilleistungsstörung, d.h. das Kind hat bei einer durchschnittlichen oder überdurchschnittlichen allgemeinen Begabung ausschließlich in den Bereichen Lesen und/ oder Schreiben große Schwierigkeiten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschreibt die LRS als eine "Entwicklungsbeeinträchtigung schulischer Fertigkeiten". Wird im Kindesalter die LRS nicht festgestellt und behandelt, so kann sie bis ins Erwachsenenalter fortbestehen.

Beispiele
Zu den Auffälligkeiten im Schulalter gehören u. a.

  • Probleme beim Schreiben (z. B. Buchstabenauslassungen oder Vertauschungen, Probleme beim Abschreiben oder ein unharmonisches Schriftbild),
  • erschwertes Lesenlernen (z. B. fehlendes Leseverständnis),
  • eingeschränkte phonologische Bewusstheit (z. B. Reimen oder Lauterkennung) oder Wahrnehmungsprobleme (z. B. auditive Merkschwäche oder visuelle Differenzierungsschwäche).


Wichtige Vorläuferfunktionen entwickeln sich bereits im Vorschulalter. Voraussetzung für die Entwicklung des Denkens, Lernens und Sprechens ist die Wahrnehmung, d.h. die Aufnahme von Reizen und die Verarbeitung im Gehirn. LRS-Kinder zeigen überdurch-schnittlich häufig Wahrnehmungsprobleme sowie Sprachentwicklungsauffälligkeiten. Unaufmerksamkeit, Clownerie, motorische Unruhe, Frustration, mangelndes Selbst-vertrauen, Bauchschmerzen, Kopfschmerzen oder Übelkeit sind häufige Begleiterschei-nungen. Diese Auffälligkeiten verändern sich trotz vermehrten häuslichen Übens nicht.